Ein Apostel des Sozialstaats – Was ich von Frater Eustachius gelernt habe

Als vor Jahren mein Vater im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg im Sterben lag, ging ich dort jeden Tag an dem Porträt eines Mönches vorbei – offenes, klares Gesicht, braune Kutte. Ich kannte das Porträt, es lag, gebetbildgroß, in meiner Kindheit in den Kirchenbänken: Frater Eustachius Kugler. Ab und zu blieb ich, auf dem Weg zu meinem todkranken Vater, sinnierend vor dem Bildnis dieses Mannes stehen, über den in den Gottesdiensten meiner Kindheit oft gepredigt worden war. Dieser Frater Eustachius, so der Ordensname, wurde 1867, also in dem Jahr, in dem Karl Marx den ersten Band seines Werkes „Das Kapital“ herausgab, als Sepperl, als sechstes Kind der Kleinlandwirts-Eheleute Kugler in Neuhaus bei Nittenau geboren. Nittenau ist mein Heimatort, mein Vater war dort Stadtkämmerer, Kirchenpfleger und jahrzehntelang Vorsitzender der Kolpingfamilie. Zu meiner Heimat gehört Frater Eustachius, der von 1925 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 Provinzial der Barmherzigen Brüder in Bayern war, der in Regensburg das große Krankenhaus seines Ordens gebaut hat.

Und weil in den sechziger Jahren, als ich Ministrant in Nittenau war, im Vatikan der Prozess zu seiner Seligsprechung eingeleitet worden war, habe ich damals in meiner katholischen Pfarrei viel von ihm gehört. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem eines: Dass Eustachius in seinen Krankenhäusern die „klassenlose“ Krankenpflege angeordnet hat. Dem Oberkrankenpfleger gab er als Provinzial die Weisung: „Tut mir vor allem die armen, die bedürftigen Schwerkranken pflegen, um die sich sonst niemand recht kümmert. Wenn ein Bischof oder sonst ein höher Würdenträger als Patient kommt, dann braucht man nicht so zu laufen, weil genug andere da sind, die sie schon in jeder Hinsicht betreuen!“ Das hat mir schon damals, als Ministrant in Nittenau in der Oberpfalz, recht imponiert – und der Satz gefällt mir heute immer noch.

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Dr. jur Heribert Prantl Foto:www.altrofoto.de

Welche Anweisung der Ordensmann wohl heute geben würde? Würde er seine Ärzte auffordern, nicht auf das Alter der Patienten als Behandlungsmaßgabe zu starren? Würde er sie ermahnen, die Hochbetagten nicht als Menschen dritter Klasse zu betrachten? Würde er sein Krankenhaus Management davor warnen, die Gewinnerzielung zur allein handlungsleitenden Kategorie zu machen? Womöglich hielte er seinem Verwaltungschef eine Predigt darüber, was das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter heute besagt. Womöglich würde er in einem Rundschreiben vor dem „Verlust des Mitgefühls“ warnen und vor einer Entwicklung, in der das Geld nicht mehr ein Mittel zum Zweck der Versorgung von Kranken ist, sondern die Versorgung von Kranken ein Mittel ist zum Zweck der Gewinnerzielung.

Und womöglich würde dann der Verwaltungschef dem Frater Eustachius folgendes antworten: „Lieber Provinzial, das haben Sie zwar schön gesagt, aber mit Mitgefühlt allein schreiben wir hier im Krankenhaus rote Zahlen, und die Wahrheit ist leider die, die Bert Brecht in der Dreigroschenoper so formuliert hat: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Und dann würde der Ordens‑ und Gottesmann Eustachius wohl furchtbar zornig werden und sagen, dann könne man ja selbst in einem kirchlichen Krankenhaus statt ein Kreuz künftig ein Bild von König Midas in die Krankenzimmer hängen.

Das Leben beginnt ungerecht und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit dem silbernen Löffel im Mund geboren, der andere in der Gosse. Der eine zieht bei der Lotterie der Natur das große Los, der andere die Niete. Der eine erbt Talent und Durchsetzungskraft, der andere Aids und Antriebsschwäche. Die Natur ist ein Gerechtigkeitsrisiko. Der eine kriegt einen klugen Kopf, der andere ein schwaches Herz. Bei der einen folgt einer behüteten Kindheit eine erfolgreiche Karriere. Den anderen führt sein Weg aus dem Ghetto direkt ins Gefängnis. Die eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn stark, der andere in eine, die ihn kaputt macht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner; der andere ist doof, aber man trichtert ihm das Wissen ein. Der eine ist sein Leben lang gesund, die andere wird mit einer schweren Behinderung geboren.

Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es hält sich nicht an die Nikomachische Ethik. Es teilt ungerecht aus und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Hier haben die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände ihre Aufgabe, hier haben die sozialen Orden und die Pflegeorden ihre Aufgabe, hier hat auch der Sozialstaat seine Aufgabe. Der Sozialstaat ist, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor. Frater Eustachius, sein von mir eingangs zitierter Satz zeigt es, war auch so ein Schicksalskorrektor.

Frater Eustachius war nicht nur ein guter Manager, sondern auch ein Lehrer der Humanität, ein Apostel des Sozialstaates. Seine Lehre: Der Wert des Menschen darf nicht mit dem Lineal der Ökonomie gemessen werden. Dieses Bewusstsein unterscheidet ein christliches, ein nächstenliebendes Wirtschaften von der blanken Ökonomie, von dem, was man in den zurückliegenden Jahren „Neoliberalismus“ nannte. In einem sozialen Staat zählen andere Werte als nur der Marktwert und zählen andere Werte als nur die unbegrenzte Leistungsfähigkeit. Und Leitbild ist hier nicht der König Midas, sondern der „Barmherzige Samariter“ – der aber seine Aufgabe nicht allein darin sieht, die unter die Räuber Gefallenen zu pflegen; ein guter und kluger Samariterdienst besteht auch darin, die Straßen so zu sichern, dass immer weniger Menschen unter die Räuber fallen. Ein funktionierendes Krankenhauswesen, so wie Frater Eustachius es aufgebaut hat, ist Teil dieses Samariterdienstes.

Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen: Das ist ein Satz aus der Präambel der Verfassung der Schweiz. Dieser Satz könnte von Frater Eustachius stammen. Dieser Satz passt zu ihm. Der starke Staat ist ein Staat, der für Chancengleichheit sorgt, der sich um das Wohl der Schwachen kümmert – und dabei vielleicht auch lernt, dass die Behinderten und die Schwachen gar nicht so schwach sind, wie man oft meint; und dann ihre Stärken, die Stärken des Imperfekten, zu schätzen lernt. Kurz gesagt: Der starke Staat ist der Staat, der den Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ nicht für ein bloßes Sprüchlein nimmt. Das kann man von Frater Eustachius lernen. Das habe ich von ihm gelernt.

Dr. jur Heribert Prantl ist Leiter der Redaktion Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung.

Geschrieben am 9. Februar 2011

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