Die Wunden verwandeln: Behinderung als Chance

Legenden liefern – bei aller tieferen Wahrheit – nicht immer ein richtiges Bild. Und manchmal täuschen sogar die Fotos. Den ebenso charismatischen wie bescheidenen Barmherzigen Bruder Eustachius Kugler stellt man sich gern als zierliches Männlein vor, das mit leisem Tritt und sanftem Lächeln durch die Gänge von Klöstern und Krankenhäusern huscht, eine ziemlich vergeistigte Figur.

Sturz vom Baugerüst

Sturz vom Baugerüst

Und man vergisst dabei, dass der Kugler Sepp – wie er mit bürgerlichem Namen hieß – der Sohn eines Waldbauern und Dorfschmieds aus der armen Oberpfalz gewesen ist, der in Haus und Feld tüchtig mit anpacken musste. Der Sepp brachte das Vieh auf die Weide, half beim Stallausmisten und bei der Ernte, trat den Blasebalg in der Hufschmiede, ging dem Vater beim Beschlagen der Pferde zur Hand – und lief jeden Tag eine volle Stunde zur Schule, barfuß, bei klirrender Winterkälte in Holzschuhen. Auch als er 1881 als vierzehnjähriger Bauschlosserlehrling nach München ging, hieß es kräftig zulangen: Gerüste aufbauen, Fenstergitter schleppen, Dachrinnen montieren.

Für den schmalen, aber zähen Waldbauernbuben ist es eine Katastrophe, als er zwei Jahre später vier Meter tief vom Gerüst stürzt. Die komplizierte Verletzung am rechten Fuß wird nicht gründlich genug behandelt, die eiternde Wunde will sich nicht schließen, ist ein ständiger Infektionsherd; man denkt sogar daran, dem Sechzehnjährigen den Fuß zu amputieren! So etwas wie eine Reha-Therapie kannte man damals noch nicht, Endstation für Menschen mit Behinderung war oft genug das Armenhaus.

Mit 16 hat Josef Kugler den entscheidenden Wendepunkt erreicht, den es in so ziemlich jedem Menschenleben gibt und an dem sich die Wege gabeln. Er hätte sich trotzig zurückziehen, in Selbstmitleid und Weltschmerz versinken können. Eine ganz menschliche, natürliche Reaktion. Er hätte den rauflustigen Gesellen, der ihn da oben auf dem Gerüst bedrohte und daran schuld war, dass er stolperte und fiel, bis ans Lebensende mit unauslöschlichem Hass verfolgen können.

Die ersten Jahre war er drauf und dran, der Verzweiflung zu verfallen. Bei seiner Schwester, die ihn aufgenommen hatte, und ihrem Mann, einem blutarmen Kleinhäusler und Holzfäller, fühlte er sich als unnütze Last. Der Frühinvalide versuchte im Haushalt und beim Holztransport zu helfen, litt aber unter kaum erträglichen Schmerzen.

Ganz langsam und mühevoll lernte er, in langen Stunden des Nachdenkens und Betens, seine Behinderung als Chance zu sehen, sich von dem Schicksalsschlag auf einen neuen Weg führen zu lassen. Mit 25 trat er bei den Barmherzigen Brüdern in Reichenbach ein, wo sie in einem ehemaligen Benediktinerkloster eine Pflegeanstalt für unheilbar Kranke, „Schwachsinnige“, schwer Verhaltensgestörte eingerichtet hatten. Frater Eustachius, wie er jetzt hieß, brachte ein doppeltes Kapital mit: Kenntnisse im Schlosserhandwerk – und ein aus eigener Erfahrung stammendes feinnerviges Verständnis für Schmerz und Behinderung.

Die Wunden, die uns das Leben zufügt, stellen uns jedes Mal vor eine Entscheidung: Interpretieren wir sie in müder Resignation als K.O.-Schlag, als Abbruch aller Pläne und Träume? Oder sind wir neugierig, offen, gläubig genug, dass sie sich in Chancen verwandeln können? Der auferstandene Christus trägt auf den alten Bildern die Wunden des Gekreuzigten. Sie strahlen.

Geschrieben am 19. August 2009

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